Kalte Progression - die heimliche Steuererhöhung

Staat und Wirtschaftspolitik

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Hintergrundtext
01.11.2017

Eine heimliche Steuererhöhung, ganz ohne Gesetzesänderung: So wird die kalte Progression oft dargestellt. Doch was ist dran an dieser Darstellung?

Wenn das Thema Steuern zur Sprache kommt, fällt häufig der Begriff „kalte Progression“. Gemeint ist damit ein schleichender Prozess, der sich seit Jahren in Deutschland vollzieht und die Steuerbelastung für einen Teil der Bevölkerung erhöht, ohne dass gesetzliche Änderungen vorgenommen werden.

Grund für diese Entwicklung ist die Inflation. Die Lebenshaltungskosten steigen – nicht nur in Deutschland – in der Regel an. Die Europäische Zentralbank strebt eine Inflationsrate von zwei Prozent an, um eine Preisstabilität herzustellen. In die Inflation spielen unterschiedliche Faktoren hinein, unter anderem Preise für Energie, Lebensmittel und Mieten. Bei gleichbleibenden Gehalt können sich die Menschen folglich weniger leisten.

Viele Arbeitnehmer fordern daher, dass ihre Löhne an die Inflation angepasst werden und somit das Nettoeinkommen die gleiche Kaufkraft wie vorher behält. Die Einkommensteuer bewirkt allerdings oft, dass der gewünschte Effekt ausbleibt.

Progressives Steuersystem in Deutschland

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Deutschland ein progressives Steuersystem hat. Das heißt: Wer mehr verdient, zahlt auch einen prozentual höheren Steuersatz. Dieser bewegt sich zurzeit zwischen 14 und 45 Prozent.

Steigt nun die Inflation und durch eine Lohnanpassung auch das Gehalt, erhöht sich auch der zu zahlende Steuersatz. Zusammen können die Inflation und der höhere Steuersatz die Gehaltserhöhung neutralisieren. Im schlimmsten Fall hat der Arbeitnehmer sogar am Ende trotz Gehaltserhöhung weniger Geld in der Tasche. Grundsätzlich versteht man unter kalter Progression deshalb eine Steuermehrbelastung, die aufkommt, solange Einkommensteuersätze nicht an die Preissteigerung angepasst werden.

Beispielrechnung

Ein Arbeitnehmer verdient zurzeit monatlich 4000 Euro brutto. Um die jährlich Inflation in Höhe von zwei Prozent auszugleichen, erhält er nun eine Lohnerhöhung von zwei Prozent, das wären genau 80 Euro. Da er aber in eine höhere Steuerstufe rutscht, bleiben lediglich 56 Euro von der Erhöhung übrig. Sein Einkommen nach Steuern steigt nur um 1,7 Prozent und nicht um zwei Prozent. Somit wird der Kaufkraftverlust der Inflation trotz Gehaltserhöhung nicht vollständig ausgeglichen und der Arbeitnehmer kann sich weniger als vorher leisten.

Besonders hart trifft die kalte Progression Menschen mit niedrigem Einkommen. Auch das ist dem progressiven deutschen Steuersystem geschuldet. Denn die Steuerlast steigt zwar mit der Höhe des Einkommens, doch eben nicht linear. Vielmehr verläuft sie zwischen dem Grundfreibetrag von derzeit 8.820 Euro und einem zu versteuernden Einkommen von 13.769 Euro sehr steil. Erst danach macht die Steuerbelastungs-Kurve einen Knick und entwickelt sich flacher bis zum Spitzensteuersatz. Das nennt man – verwirrenderweise - Mittelstandsbauch. Dabei beschreibt es vor allen Dingen das Phänomen, dass Geringverdiener überdurchschnittlich stark von der kalten Progression betroffen sind.

Reform der Einkommensteuer nötig

Kalte Progression könnte vermieden werden, wenn beispielsweise der Einkommensteuertarif regelmäßig an die Inflation angepasst würde. Im Politik-Jargon spricht man dann von einem Einkommensteuertarif „auf Rädern“. Gefordert haben das unter anderem die Forscher am Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung. Sie schlugen vor, den Steuertarif an die Preissteigerung oder aber an die Wachstumsrate des Volkseinkommens zu koppeln.

Eine andere Möglichkeit, das Problem zu lösen, wäre ein einheitlicher Steuersatz von etwa 25 Prozent. So würde bei einer Gehaltserhöhung niemand in einen höheren Steuertarif rutschen – denn es gäbe ja keinen. Doch auch in diesem Modell hätten Geringverdiener das Nachsehen. Sie würden teilweise mehr Steuern zahlen als bisher. Profitieren würden Menschen mit höherem Einkommen. Ihr Steuersatz würde schlagartig niedriger ausfallen. Das aber wäre kaum mit dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit vereinbar, der in Deutschland herrscht.

Ist die kalte Progression also eine heimliche Steuererhöhung? In gewisser Weise ja. Immerhin kann der deutsche Staat durch das Zusammenspiel von Inflation, Lohnanpassung und seinem progressiven Steuersystem jedes Jahr Mehreinnahmen in Milliardenhöhe verzeichnen. Erste Gegenmaßnahmen werden aber bereits getroffen. So hat das Bundesfinanzministerium die Steuertarife nun einmalig an die aktuelle Inflation angepasst. Wie das Problem aber in Zukunft gelöst wird, ist noch nicht klar.


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