Der Fachkräftemangel ist plötzlich Realität
Berufsorientierung und Arbeitsmarkt
Sekundarstufe I + II
Ob im Gesundheitswesen, in der Gastronomie, an Flughäfen oder bei Airlines, im Handwerk oder in der Metall- und Elektro-Industrie: Der Arbeits- und Fachkräftemangel ist mittlerweile allgegenwärtig. Dennoch gibt es bislang kein Gesamtkonzept der Politik, um dem drängenden Problem Herr zu werden – obwohl es jede Menge Stellschrauben dafür gäbe.
Artikel 3 des berühmten Kölschen Grundgesetzes lautet: Et hätt noch immer jot jejange. Auf Hochdeutsch: Es ist bisher noch immer gut gegangen. Jene Binsenweisheit galt in den vergangenen Jahren auch mit Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt. Denn obwohl Wirtschaftsexperten schon lange vor dem Fachkräftemangel warnten und dabei auf die demografische Entwicklung verwiesen, schienen die Probleme vielerorts wenig akut.
Dabei lässt die Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts schon lange keinen Zweifel daran aufkommen, wie gravierend die demografischen Herausforderungen sind (Grafik):
Bereits 2025 wird die Altersverteilung der deutschen Bevölkerung weit von der klassischen Pyramidenform entfernt sein – die meisten Einwohnerinnen und Einwohner haben dann gerade das Rentenalter erreicht oder stehen kurz davor.
Der Befund hat seine Ursache in der schon lange niedrigen Geburtenrate. Die Flüchtlingsströme der vergangenen Jahre brachten zwar vor allem jüngere Menschen in die Bundesrepublik, doch das war kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Mittlerweile scheint Artikel 3 des Kölschen Grundgesetzes jedenfalls plötzlich nicht mehr zu gelten, denn der Arbeitskräftemangel ist nun in vielen Branchen und Betrieben Realität. Nicht zuletzt aufgrund von Corona: Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass sich viele Menschen während der Lockdowns beruflich umorientiert haben.
Bei den Fachkräften – beispielsweise im MINT-Bereich – hat Corona im Jahr 2020 indes für einen kurzen, aber mehr als trügerischen Frieden gesorgt. Da ging die Fachkräftelücke, die das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung jedes Jahr auf Basis der Daten der Bundesagentur für Arbeit berechnet, erstmals seit einem Jahrzehnt spürbar zurück (Grafik):
Fehlten im Jahr 2019 noch fast 400.000 Fachkräfte in Deutschland, waren es 2020 nur noch etwas mehr als 240.000. Im Jahr 2021 wurde die Lücke allerdings schon wieder deutlich größer – im Durchschnitt wurden 350.000 Personen gesucht.
Und 2022 dürften es noch einmal viel mehr werden. Ohnehin sind die Zahlen des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung eine eher konservative Annäherung an die Realität: Um dem Vorwurf des Alarmismus jede Grundlage zu nehmen, wird für die Berechnung deutschlandweit jede verfügbare offene Stelle mit einem verfügbaren Bewerber besetzt. Nur der Rest wird als Lücke ausgewiesen. Dabei ist es in Wirklichkeit natürlich mehr als fraglich, ob ein Koch aus Lübeck in der Folgewoche in Oberammergau einen neuen Job antreten würde.
Doch was ist zu tun, wenn der Arbeitskräftemangel allgegenwärtig ist? Mit dieser Frage sollte sich die deutsche Politik eigentlich schon seit vielen Jahren umfassend beschäftigen. Doch es liegt in der Natur des Denkens in Legislaturperioden, dass die Tagesaktualität langfristige Vorsorge verdrängt. Hinzu kommt, dass viele der Möglichkeiten, die der Politik gegen den Fachkräftemangel zur Verfügung stehen, nur sehr bedingt auf Gegenliebe der Wähler stoßen.
Die aktuellen Schlagzeilen zu gestrichenen Flügen, geschlossenen Hotels und Restaurants, abgesagten Festivals und brachliegenden Baustellen zeigen aber eindrücklich, dass die Regierenden sich mit allen wirtschaftspolitischen Möglichkeiten auseinandersetzen müssen, um dem Arbeits- und Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen. Ihre Optionen im Einzelnen:
Mehr Plätze in Kitas
Erwerbsbeteiligung der Frauen. Im Jahr 2021 finanzierten fast zwei Drittel der Frauen im Alter von 18 bis 64 Jahren ihren Lebensunterhalt durch die eigene Erwerbstätigkeit, im Jahr 2000 hatte das noch für lediglich etwas mehr als die Hälfte gegolten. Bei der Erwerbsbeteiligung der Frauen hat sich also bereits vieles positiv entwickelt. Gleichwohl ergab eine Studie des Münchner ifo-Instituts, dass noch immer 17 Prozent der Frauen gern mehr arbeiten würden, als sie es aus verschiedenen Gründen tatsächlich tun.
Was sie unter anderem an einer Ausweitung der Erwerbstätigkeit hindert, ist das Betreuungsangebot für den Nachwuchs. Denn das ist noch immer längst nicht überall so umfassend ausgebaut, wie es nötig wäre: Im Jahr 2020 wurden in Deutschland rund 48 Prozent der drei- bis fünfjährigen Kinder ganztags betreut – ein Plus von etwas mehr als 15 Prozentpunkten binnen zehn Jahren. Bei den unter Dreijährigen stieg die Quote von gut 12 auf fast 20 Prozent.
Laut Berechnungen des IW fehlten 2020 trotz dieser Entwicklung deutschlandweit noch immer rund 340.000 Plätze in Kitas.
Die müssen zeitnah zur Verfügung stehen, wenn mehr Frauen arbeiten können sollen.
Bildung. Rund 10 Prozent der 18- bis 24-Jährigen hatten 2020 in Deutschland nur die Sekundarstufe I durchlaufen und keine weitere allgemeine oder berufliche Bildung erfahren. Damit gelten sie nach offizieller Definition als bildungsarm.
Deutschland steht mit dieser Quote deutlich schlechter da als andere europäische Staaten wie Kroatien (2,2 Prozent), Griechenland (3,8) oder Irland (5,0). Es tut also Not, dass die Bundesrepublik analysiert, wie sie die Bildungsarmut reduzieren kann. Schließlich braucht das Land qualifizierten Nachwuchs mehr denn je.
Auch mit Blick auf die Sprachkompetenz liegt einiges im Argen – über alle Generationen hinweg (Grafik):
Laut Studie der Uni Hamburg waren im Jahr 2018 in Deutschland rund 12 Prozent der erwerbsfähigen Menschen Analphabeten, also 6,2 Millionen.
Zwar ist der Anteil der Analphabeten zwischen 2010 und 2018 um 2,4 Prozentpunkte gesunken, doch wenn immer noch jeder Achte zwischen 18 und 64 Jahren nicht richtig lesen und schreiben kann, ist das ein erschreckend hoher Anteil im Land der Dichter und Denker.
Entsprechend sollte das deutsche Bildungssystem beispielsweise durch verpflichtende Tests entsprechende Lücken bei allen Kindern rechtzeitig erkennen und die Sprachkompetenz gezielt fördern.
Zudem offenbart der neueste Bildungsmonitor des Instituts der deutschen Wirtschaft, dass der Staat in jüngerer Vergangenheit zwar mehr Geld in die Schulen gesteckt hat, unter anderem um die Förderinfrastruktur zu verbessern – auf die Schulqualität hat sich das aber nicht positiv ausgewirkt. Auch hier muss seitens der Politik nachgeschärft werden.
Ebenfalls in den Bildungsbereich fällt, dass immer mehr junge Menschen in Deutschland Abitur machen, um danach zu studieren. Und das, obwohl das hiesige duale Ausbildungssystem Weltruhm genießt, als Blaupause für andere Länder dient und man mit dem richtigen Ausbildungsjob teils deutlich besser verdienen kann als mit einem akademischen Abschluss – im Maschinenbau beispielsweise oder in der Luftfahrttechnik. Darüber sollte schon in der Schule umfassend informiert werden.
Die Rente muss generationengerecht werden
Rentenbeginn. Manche Fässer müssen immer wieder aufgemacht werden. Das gilt für kaum ein politisches Thema so sehr wie für die Rente. Hier hat sich die aktuelle Regierungskoalition darauf versteift, dass weder am Sicherungsniveau von 48 Prozent des einstigen Einkommens noch am Rentenbeginn mit 67 Jahren gerüttelt werden soll.
Doch sowohl Ökonomen als unlängst auch die Bundesbank widersprechen energisch. Letztere hat vorgeschlagen, den Rentenbeginn an die Lebenserwartung zu koppeln. Nur so könne verhindert werden, dass die steigende Lebenserwartung zu einer unbezahlbaren Belastung für die Rentenzahler – also die jüngeren Generationen – wird. Hier sollte die Politik ergebnisoffen diskutieren, wie die gesetzliche Rente generationengerecht zu gestalten ist.
Immerhin stimmt die Richtung, in die sich die Beschäftigung Älterer in den vergangenen Jahren entwickelt hat (Grafik):
Im Jahr 2020 arbeiteten fast 2,5 Millionen Menschen ab 55 Jahren mehr in Deutschland als noch im Jahr 2013.
In keiner anderen Altersgruppe war der Anstieg so deutlich. Gleichwohl ist natürlich nicht jeder Job für jedes Alter geeignet. Deshalb sind auch die Unternehmen gefragt, ältere Mitarbeiter passend einzusetzen und ihnen – gemeinsam mit dem Staat – Möglichkeiten zu bieten, sich bis ins Alter weiter zu qualifizieren.
Geordnete Zuwanderung. Gastarbeiter, beispielsweise aus der Türkei, verhalfen Deutschland zum Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt sollen sie kurzfristig an deutschen Flughäfen helfen, das Chaos in den Griff zu bekommen. Doch auch dauerhaft führt an qualifizierter Zuwanderung kein Weg vorbei.
Das ist der Politik bewusst. Deshalb hat schon die Große Koalition das Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht und die Ampel-Regierung setzt nun ebenfalls auf qualifizierte Zuwanderung. EU-weit unterstützt dafür bereits seit 2012 die Blaue Karte, ein befristeter Aufenthaltstitel für akademische Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern. In Deutschland dürfen sich aktuell 70.000 von ihnen aufhalten, mehr als 57.000 einstige Blue-Card-Inhaber verfügen mittlerweile über eine unbefristete Niederlassungserlaubnis.
Die Politik muss in den kommenden Jahren stärker denn je um Arbeitskräfte aus Drittstaaten werben – nicht nur mit der Blauen Karte, sondern auch mit anderen gezielten Maßnahmen.
New Work. Menschen und Unternehmen hat Corona hart getroffen. Allerdings hat die Pandemie den Wandel der Arbeitswelt enorm beschleunigt – Stichwort mobiles Arbeiten.
Darin steckt mit Blick auf den Arbeitskräftemangel nun eine enorme Chance: Mitarbeiter müssen nicht länger zwingend vor Ort sein, sie können in vielen Jobs in einer ganz anderen Region oder gar in einem anderen Land ihren Lebensmittelpunkt haben. Und jene, die sich neben dem Job um Angehörige kümmern, können ihre Arbeit dank moderner Technik besser denn je darum herum organisieren.
Unternehmen, die Fachkräfte suchen, sollten diesen entsprechende Möglichkeiten zum mobilen Arbeiten anbieten. Und auch mit Blick auf die Stammbelegschaft sollten Chefs offen für New Work sein:
Eine LinkedIn-Umfrage ergab, dass 40 Prozent der Befragten eine Kündigung erwägen, wenn ihre Firma ihnen flexibles Arbeiten verwehrt.
Gleichwohl will kaum jemand ausschließlich von zu Hause arbeiten – rund die Hälfte der von der Unternehmensberatung EY Real Estate Befragten präferiert eine Mischung aus Büro und Homeoffice.
Dieser Artikel erschien zuerst auf iwd.de