Selbstständigkeit: Bürokratie schlägt Leidenschaft
Berufsorientierung und Arbeitsmarkt
Sekundarstufe I + II
Die meisten Selbstständigen in Deutschland sind gerne unabhängig und genießen ihre beruflichen Freiheiten. Gleichzeitig leiden sie unter bürokratischen Hürden – und das so sehr, dass einige darüber nachdenken, die Selbstständigkeit aufzugeben oder ins Ausland zu ziehen.
Berufung statt Beruf: Für viele Selbstständige in Deutschland ist ihre Tätigkeit mehr als das Mittel, den Lebensunterhalt zu verdienen. In einer Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft von mehr als 6.000 Selbstständigen gaben im Herbst 2023 mehr als 90 Prozent von ihnen an, „von ganzem Herzen selbstständig tätig“ zu sein.
Das selbstbestimmte Arbeiten ist ihnen besonders wichtig, ebenso die Möglichkeit, sich die Zeit frei und flexibel einteilen zu können. Ein weiterer wichtiger Grund für die unabhängige Tätigkeit ist der Fokus auf die eigenen Stärken. All das führt dazu, dass es Selbstständigen in der Regel im Beruf gut geht:
Mehr als 80 Prozent der Selbstständigen sind in hohem Maße mit ihrer Arbeit zufrieden. Damit sind sie zufriedener als abhängig Beschäftigte.
Also alles in Ordnung bei den Unternehmern? Nur auf den ersten Blick. Denn viele der Selbstständigen in Deutschland haben ein großes Problem mit dem Rahmen, den ihnen Recht und Behörden setzen. Diese Situation hat sich in den vergangenen Jahren zugespitzt (Grafik):
Für zwei Drittel der Selbstständigen haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren beziehungsweise seit Beginn ihrer Selbstständigkeit verschlechtert.
Besonders kritisch sehen die gewerblichen Soloselbstständigen die Lage. Drei Viertel von ihnen klagen über schlechtere rechtliche Bedingungen.
Ein großes Problem aus Sicht der Selbstständigen sind die Statusfeststellungsverfahren. Mit diesen Verfahren prüft die Deutsche Rentenversicherung, ob die Selbstständigen tatsächlich selbstständig arbeiten oder es sich um eine Scheinselbstständigkeit handelt. In der IW-Befragung gaben 21 Prozent der Teilnehmer an, von einem solchen Verfahren schon betroffen gewesen zu sein. Ein Fünftel von ihnen hat das Verfahren selbst veranlasst, um sich die Selbstständigkeit bestätigen zu lassen.
Das Wissen über Inhalt und Ablauf ist bei vielen ausbaufähig:
58 Prozent der Selbstständigen sind nach eigener Aussage kaum über das Statusfeststellungsverfahren informiert oder fühlen sich davon sogar überfordert.
Selbst unter jenen, die von einem Verfahren betroffen waren oder es gerade durchlaufen, ist die Quote nur unwesentlich besser.
Diese Unsicherheit hat Folgen für die Betroffenen (Grafik):
Knapp 60 Prozent der Selbstständigen, die von einem Verfahren betroffen sind oder waren, haben dadurch zusätzlichen Aufwand bei der Akquise von Aufträgen.
Das betrifft vor allem die Soloselbstständigen. Auftraggeber schrecken teilweise davor zurück, mit ihnen zusammenzuarbeiten, zum Beispiel weil sie im Falle einer festgestellten Scheinselbstständigkeit rückwirkend Sozialabgaben für den formal Selbstständigen zahlen müssten. Den Effekt spüren sogar die Selbstständigen, die noch gar kein Verfahren durchlaufen haben, wenn auch nicht ganz so stark.
Aufgrund dieser Unsicherheit und der negativen Auswirkungen der Bürokratie hat mehr als ein Drittel der befragten Selbstständigen erwogen, ins Ausland zu ziehen. Mehr als ein Viertel hat darüber nachgedacht, die Selbstständigkeit zu beenden. Dies betrifft überdurchschnittlich häufig IT-Freelancer, die hohe Einkommen erzielen. Angesichts der Tatsache, dass die Zahl der Selbstständigen in Deutschland seit Jahrzehnten rückläufig ist, ist das ein alarmierendes Signal. Der rechtliche Rahmen muss dringend überarbeitet und vereinfacht werden, um das Arbeiten als Freiberufler in Deutschland wieder attraktiver zu machen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf iwd.de