Ein europäischer Mindestlohn?

Globalisierung und Europa

Sekundarstufe I + II

Hintergrundtext
20.01.2022
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Schon bei der Debatte um den nationalen Mindestlohn driften die Meinungen gehörig auseinander. Auf EU-Ebene wird seit mehr als einem Jahr allerdings ein viel größerer Schritt diskutiert: die Einführung eines europäischen Mindestlohns. Als Richtlinienentwurf vorgelegt wurde die Idee bereits Ende 2020, umgesetzt ist sie bis heute jedoch nicht – das liegt nicht zuletzt an den Folgen, die so ein starker politischer Eingriff nach sich ziehen kann.

Als „Rechtsinstrument, mit dem sichergestellt werden soll, dass jeder Arbeitnehmer in der EU einen gerechten Mindestlohn erhält“, stellte Ursula von der Leyen im Wahlkampf um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten das Konzept einer europäischen Lohnuntergrenze vor. Mit diesem Aushängeschild wurde sie 2019 gewählt. Ein Jahr später legte die EU-Kommission unter von der Leyen den Richtlinienentwurf vor, der bis dato auf Zustimmung von Rat und Parlament wartet. Aber warum möchte die EU-Kommission die Mindestlöhne überhaupt einheitlich regeln?

Schaut man sich die Mindestlöhne der einzelnen EU-Länder an, fallen die großen Unterschiede auf (Grafik):

Während ein Mindestlohnverdiener in Luxemburg in diesem Jahr 12,73 Euro pro Stunde erhält, bekommt ein Bulgare nur 2 Euro.

Auf den ersten Blick wirkt das starke Gefälle der internationalen Mindestlöhne fast schon ungerecht. Die Differenzen sind allerdings weniger dramatisch, als sie scheinen: Denn diese absoluten Werte lassen das Preisniveau und die Lohnhöhe des jeweiligen Landes außer Acht. Zum Beispiel liegen die Mieten und Lebensmittelpreise in Bulgarien weit unter jenen in Luxemburg.

Ein europäischer Mindestlohn ist kein festgeschriebener Geldbetrag

Trotzdem: In einigen EU-Ländern ist es schwerer als in anderen, vom gesetzlichen Mindestlohn zu leben. Hier setzt die Idee eines europäischen Standards an. Ein EU-weiter Mindestlohn soll in allen 27 Mitgliedsstaaten auskömmliche Lebensbedingungen ermöglichen.

Aber heißt das jetzt, dass jemand, der in Bulgarien eben noch 2 Euro die Stunde verdient hat, auf einmal mit 12 Euro stündlich vergütet werden soll? Nein. Denn hinter dem europäischen Mindestlohn steckt kein festgeschriebener Euro- oder Centbetrag – er soll vielmehr 60 Prozent des nationalen Bruttomedianlohns pro Stunde betragen. Der Median beschreibt dabei genau jenen Stundenlohn, bei dem die eine Hälfte der Arbeitnehmer eines Landes weniger und die andere Hälfte mehr verdient.

Die Relation des Mindestlohns zum Bruttomedianlohn eines Vollzeitbeschäftigten wird auch als Kaitz-Index bezeichnet. In Deutschland müsste der Mindestlohn nach der europäischen Idee – einem Kaitz-Index von 60 Prozent – um rund 25 Prozent erhöht werden und läge heute bei gut 12 Euro – also gerade bei dem strittigen Wert, der sich auch im Koalitionsvertrag der Ampel wiederfindet.

Das von der EU-Kommission angestrebte Ziel eines einheitlichen Mindestlohns hört sich erst mal nicht schlecht an. Es gibt jedoch einige Aspekte, die bei einem so starken Eingreifen der Politik in die (Mindest-)Lohnsetzung der Länder zu beachten sind und die die tatsächliche Umsetzung einer solchen Regelung erschweren.

Kompetenzschranke. Ein Grundsatzproblem bei der Einführung einer europäischen Lohnuntergrenze tut sich auf, wenn man in das EU-Recht schaut. Demnach darf sich die EU nicht in Entgeltfragen ihrer Mitgliedsstaaten einmischen. Inwieweit die EU-Richtlinie diese Kompetenzschranke missachten würde, ist noch unklar.

Kaitz-Index. Auch wenn der Kaitz-Index mehr über den realen Lebensstandard der EU-Länder verrät, als es der reine Vergleich von Mindestlohnhöhen vermag, ist seine Aussagekraft beschränkt. Der Index betrachtet üblicherweise ausschließlich Bruttogrößen. Das heißt: Er ist blind für die Steuer- und Abgabensysteme der einzelnen Länder. Da diese allerdings wesentlich mitbestimmen, was am Ende des Monats im Geldbeutel der Arbeitnehmer übrig bleibt, spielen sie bei der Mindestlohnsetzung eine wichtige Rolle.

Aus diesem Grund hat das Institut der deutschen Wirtschaft die Mindestlohn-Medianlohn-Relation zusätzlich auf der Grundlage von Nettomedianlöhnen bestimmt und anschließend mit der jeweiligen nationalen Armutsgefährdungsschwelle verglichen. Die Berechnungen zeigen: Bei der Bewertung des nationalen Lebensstandards pauschal Bruttogrößen zu benutzen, kann irreführend sein, wie zum Beispiel ein Vergleich von Belgien und Frankreich verdeutlicht (Grafik):

Der Kaitz-Index liegt in Frankreich bei 61 Prozent, in Belgien nur bei 47 Prozent. Dennoch hat ein Mindestlohnbezieher in Belgien netto mehr übrig als sein Pendant in Frankreich.

Auch im Verhältnis zur Armutsgefährdungsschwelle schneiden die belgischen Mindestlohnempfänger netto besser ab als die französischen – trotz des niedrigeren Kaitz-Index. Das liegt daran, dass die belgischen Mindestlohnempfänger kaum Abzüge haben – ihr Nettoverdienst liegt nur etwa 4 Prozent unter ihrem Bruttoverdienst, da sie Zuschüsse zu Sozialversicherungsbeiträgen und Steuerermäßigungen erhalten.

Nationale Sozialsysteme. Das obige Beispiel zeigt: Die Einführung eines – gemessen am (Brutto-)Kaitz-Index – einheitlichen Mindestlohns würde in einigen Staaten zu erheblichen Umbrüchen im gesamten Steuer- und Transfersystem führen. Dabei ist nicht garantiert, dass die Beschäftigten in den einzelnen EU-Ländern überhaupt von jenen aufwendigen strukturellen Veränderungen profitieren würden. Belgien zum Beispiel müsste vermutlich die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung für Mindestlohnempfänger herabsetzen, wenn es einen Kaitz-Index von 60 Prozent erreichen wollte. Folglich hätte das Land aber wohl keine Mittel mehr, im gleichen Maße wie heute auch die Beiträge der Arbeitnehmer mit Niedriglohn zu bezuschussen. Damit bliebe ungewiss, ob der Nettoverdienst der Mindestlohnempfänger anstiege.

Um Einkommensarmut effektiv zu verringern, braucht es mehr Flexibilität, als ein einheitlicher Prozentwert in Form eines europäischen Mindestlohns bieten kann. Besser wäre daher eine EU-Ratsempfehlung, die den einzelnen Mitgliedsstaaten genügend Freiraum lässt, den Mindestlohn einerseits vorsichtiger in kleineren Schritten zu erhöhen und andererseits von der 60-Prozent-Hürde abzuweichen, sofern sich diese negativ auf Beschäftigung, Bildungsanreize oder Tarifautonomie auswirkt.

Dieser Text erschien zuerst auf iwd.de.