Der deutsche Tourismus hat Zukunft
Unternehmen und Markt
Sekundarstufe I + II
Die Reiseindustrie zählt zu den Branchen, die weltweit am stärksten von der Corona-Krise betroffen waren. Ansteckungssorgen, Reisewarnungen und andere Einschränkungen haben auch das deutsche Reisegeschäft einbrechen lassen. Trotz aller Befürchtungen blieb die prophezeite Pleitewelle der Hotels im ersten Halbjahr 2021 allerdings aus. Doch die Frage bleibt, wie die Pandemie den Tourismus in Deutschland verändert hat.
„Einen Anstieg der Insolvenzen in der Tourismusbranche von 40 bis 60 Prozent“ prognostizierten Wirtschaftsexperten noch im Herbst 2020 für das Jahr 2021. Der wenig hoffnungsvolle Blick auf die Zukunft der deutschen Tourismusindustrie war in jenen Monaten der Reiseverbote und Hochrisikogebiete auch in vielen anderen Branchen spürbar. Denn obwohl Deutschlands Wirtschaft im Vergleich zu den Mittelmeerinseln oder den Malediven weit weniger vom Tourismus abhängt, bleibt Letzterer eine Querschnittsbranche. Das bedeutet: Einbrüche im Reisegeschäft wirken sich auch auf andere Wirtschaftszweige aus, wie zum Beispiel auf den Handel, das Handwerk oder die Landwirtschaft.
Überbrückungshilfen haben gegriffen
Trotz aller Befürchtungen blieb die prophezeite Pleitewelle der Hotels, Gaststätten und Reiseunternehmen im ersten Halbjahr 2021 allerdings aus. Die Zahl der Insolvenzanmeldungen im Bereich der sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen, zu denen auch Reisebüros und -veranstalter zählen, ging im Vergleich zu 2020 sogar um 14,6 Prozent zurück. Experten warnen jedoch davor, mit Blick auf die teils noch laufenden finanziellen Hilfen und Maßnahmen wie die Kurzarbeit ein vorschnelles Fazit zu ziehen und mögliche Nachholeffekte zu unterschätzen. Es ist nicht auszuschließen, dass durch die Finanzspritzen Unternehmen am Leben gehalten wurden, die schon vor Ausbruch der Pandemie wirtschaftlich nicht gut aufgestellt waren.
Schaut man allerdings auf die Zahl der in Deutschland aktuell geöffneten Beherbergungsbetriebe, lässt sich eine leichte Erholung der Branche durchaus vermuten (Grafik):
Im Juli 2021 haben 50.912 Hotels und Unterkünfte in Deutschland Gäste empfangen können – das waren knapp 2.000 Betriebe mehr als im Jahr zuvor.
Auch die Übernachtungszahlen schnellten 2021 wieder in die Höhe. Dass sie im August dieses Jahres schon wieder weit näher am Vorkrisenniveau als am Vorjahresniveau lagen, lässt die Unternehmen der Tourismusbranche aufatmen. Ein Plus von 13,4 Prozent verglichen mit 2020 und ein Minus von nur noch 3,1 Prozent verglichen mit 2019 zeigt: Die Bundesbürger haben das Reisen weder verlernt noch das Interesse daran verloren. In der diesjährigen Tourismusstudie des ADAC gibt mehr als die Hälfte der Befragten an, am liebsten wieder so oft wie vor der Corona-Krise verreisen zu wollen.
Da rückt offenbar auch das eigentlich ungeachtet der Pandemie gewachsene Bewusstsein, dass Fliegen dem Klima schadet – die sogenannte Flugscham –, in den Hintergrund. Dies jedenfalls legen die Passagierzahlen für September 2021 nahe: Im Vergleich zu September vergangenen Jahres checkten zuletzt mehr als doppelt so viele Passagiere an den deutschen Flughäfen ein oder aus – Tendenz steigend.
Gern gesehene Inlandsgäste
Auf Vorkrisenniveau lag das Fluggeschehen im September 2021 mit lediglich 47 Prozent des Passagieraufkommens von 2019 allerdings noch längst nicht. Dies könnte neben der Sorge, sich im Flieger mit dem Coronavirus zu infizieren, langwierigen Kontrollen an den Check-in-Schaltern und einigen nach wie vor nicht geöffneten Ländergrenzen noch einen weiteren Grund haben: Die vielen Monate daheim haben den Bundesbürgern das Verreisen innerhalb der Landesgrenzen nachhaltig schmackhafter gemacht (Grafik):
80 Prozent der Bundesbürger gehen davon aus, dass sie einen oder mehrere Haupturlaube der nächsten drei bis fünf Jahre in Deutschland verbringen werden.
Zu den beliebtesten innerdeutschen Reisezielen 2020 zählten Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Gerade diese, aber auch andere Regionen Deutschlands, erlebten im Sommer 2021 einen Ansturm an Touristen, wie es ihn lange nicht gegeben hat. Nach den Monaten des Stillstands kommt diese Trendwende den deutschen Gastgebern gerade recht. So ist es gut möglich, dass auch dann, wenn die internationalen Reisebeschränkungen wieder gänzlich aufgehoben sind, aus mancher Rundreise durch Afrika der Campingurlaub an der Nordsee wird und der Flug nach Spanien der Bahn- oder Autofahrt in die Sächsische Schweiz weicht.
Neben der reinen Urlaubsreise in den Sommerferien hat sich in den Pandemiemonaten noch eine ganz andere Art des Reisens herausgebildet: der Bleisure-Urlaub. Besitzer von Hotels und Gaststätten stellen sich vermehrt auf Gäste ein, die während ihres Aufenthalts Arbeit (business) und private Erholung (leisure) verbinden wollen. Diese flexible Art zu arbeiten ist der Homeoffice-Zeit der Pandemiemonate entsprungen. Viele Arbeitnehmer können sich vorstellen, weiterhin mobiler zu arbeiten. Ob sich dieser Trend im postpandemischen Arbeitsalltag auch mit Blick auf den Digitalisierungsstand vieler Beherbergungsbetriebe tatsächlich etablieren kann, ist abzuwarten.
Fest steht: Um als Reisedestination dauerhaft attraktiv zu bleiben, müssen die deutschen Urlaubsorte auf pandemiebedingt veränderte Kundenwünsche reagieren. Geringere Stornierungsgebühren, flexiblere Umbuchungsmöglichkeiten, höhere Hygienestandards und eine gute medizinische Versorgung am Urlaubsort sind den Reisenden über die vergangenen zwei Jahre wichtiger geworden. Unter diesen Voraussetzungen ist es wahrscheinlich, dass Urlaubsformen wie Camping oder Urlaub auf dem Land auch nach ihrem Corona-Hoch beliebt bleiben und die Nachfrage nach kleineren Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen weiter steigen wird.
Der Text erschien zuerst auf iwd.de.