Der Staat muss Start-ups stärker fördern
Unternehmen und Markt
Sekundarstufe I + II
Aktuell gibt es weltweit so viele milliardenschwere Start-ups – sogenannte Einhörner – wie nie zuvor. In Deutschland sind sie allerdings weiterhin vergleichsweise rar. Die Politik tut entsprechend gut daran, die Rahmenbedingungen für neue Firmen zu verbessern – beispielsweise mithilfe des geplanten Zukunftsfonds, der die Gründungskultur beflügeln soll.
Einhörner – das sind sagenumwobene Fabelwesen, die die Menschheit seit der Antike faszinieren. In der Welt der Wirtschaft dagegen bezeichnen Einhörner Start-ups, die schon zum Zeitpunkt des Börsengangs oder des geplanten Ausstiegs ihrer Kapitalgeber 1 Milliarde Dollar wert sind.
Früher waren neu gegründete Firmen mit einer entsprechend hohen Bewertung so selten wie ihre fantastischen Namensgeber, wie ein Blick in die Daten der Analyseplattform CB Insights zeigt. So gab es 2011 – also vor genau zehn Jahren – weltweit nur zwei neue milliardenschwere Start-ups. Mittlerweile sieht das ganz anders aus (Grafik):
Seit 2018 entstehen jedes Jahr mehr als 100 neue Unternehmen, die bereits vor dem Börsengang über 1 Milliarde Dollar wert sind. In diesem Jahr werden es sogar rund 500 entsprechende Start-ups sein.
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer ist die anhaltende Niedrigzinsphase weltweit. Sie führt dazu, dass Personen und Institutionen auf der Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten jenseits des festverzinslichen Wertpapiermarktes sind – das spiegelt sich schon länger in den Börsenkursen der großen Leitindizes wider und führt dementsprechend zu hohen Firmenbewertungen, auch von Start-ups.
Ein zweiter Grund ist die Corona-Pandemie. Sie verändert Gesellschaft und Arbeitswelt nachhaltig und beflügelt jene neuen Firmen, die mit innovativen Geschäftsmodellen digitale Möglichkeiten nutzen.
Tatsächlich waren die meisten Einhörner der vergangenen Dekaden solche digitalen Pioniere – die Urlaubsplattform Airbnb beispielsweise, das soziale Netzwerk Facebook und der Suchmaschinenanbieter Google. Und es ist kein Zufall, dass all diese Unternehmen aus den USA stammen. Denn auf die Vereinigten Staaten entfallen die meisten Start-up-Schwergewichte – und das mit großem Abstand, wie eine IW-Auswertung zeigt (Grafik):
Von 2007 bis Mitte Dezember 2021 wurden in den USA 477 Start-ups gegründet, die als Einhorn einzustufen sind.
China, im Ranking auf dem zweiten Platz, schafft es im gleichen Zeitraum auf immerhin 169 Einhörner und Indien als Drittplatzierter auf 51. Deutschland kommt mit 23 milliardenschweren Start-ups auf Rang fünf.
Deutschlands Börsenstars sind durchweg alt
Damit kann die Bundesrepublik nur bedingt zufrieden sein. Schließlich sind die USA mit Blick auf die Bevölkerung lediglich viermal so groß wie Deutschland, nennen allerdings über 20-mal so viele Einhörner ihr Eigen.
Hinzu kommt, dass alle an der Börse hoch dotierten deutschen Firmen schon sehr lange am Markt sind – die renommierten Autobauer beispielsweise. Und selbst der Softwarekonzern SAP, aktuell Deutschlands wertvollster Konzern, wurde bereits 1972 gegründet und ist mit Blick auf den Börsenwert weit von der Weltspitze entfernt.
Der Kronberger Kreis, eine Gruppe hochrangiger deutscher Ökonomen, nennt in einer Studie für die Stiftung Marktwirtschaft verschiedene Gründe dafür, dass die Start-up-Szene hierzulande nach wie vor schwächelt:
Natürlicher Standortnachteil. Der deutsche respektive deutschsprachige Markt ist deutlich kleiner als der amerikanische oder der chinesische, und der EU-Binnenmarkt ist weiterhin zersplittert, schon aus sprachlichen Gründen. Entsprechend haben es (digitale) Geschäftsmodelle schwerer.
Hausgemachte Standortnachteile. Nicht gerade förderlich für Start-ups sind einige Rahmenbedingungen: Es gibt strikte Regulierungen und tendenziell unternehmensfeindliche Datenschutzvorgaben. Im Jahr 2019 sahen beispielsweise nur etwas mehr als 5 Prozent der Industrieunternehmen die neuen EU-weiten Datenschutzvorgaben als förderlich für den Wettbewerb an. Die allermeisten gingen hingegen davon aus, dass ihnen die Regeln international Nachteile bescheren. Dies gilt beispielsweise auch für das Gesundheitswesen, in dem in anderen Staaten bereits deutlich mehr digitale Angebote existieren – auch, weil es einen für solche Geschäftsmodelle förderlichen rechtlichen Rahmen gibt.
Viele Ursachen für aktuelle Situation
Hinzu kommt, dass Deutschlands digitale Infrastruktur noch immer alles andere als optimal ist und der Corona-bedingte Digitalisierungsschub längst nicht so stark ausfiel, wie einige erwartet oder vermutet hatten.
Auch die hiesige Gründerkultur und der aus den USA bekannte „Mut zum Scheitern“ sind nur gering ausgeprägt. Und an den Universitäten wird – beispielsweise im Informatik- und Software-Bereich – oft theoretisch gelehrt, der Weg zur praktischen Anwendung, für die Menschen dann zu zahlen bereit sind, ist entsprechend weit.
Der Kronberger Kreis attestiert Deutschland zudem eine „digitale Lethargie des öffentlichen Sektors“ – und das nicht ohne Grund:
Im Digital Economy and Society Index der EU-Kommission erreichen die digitalen Serviceangebote der öffentlichen Hand in Deutschland für das Jahr 2020 lediglich Rang 21 von 28.
Immerhin hat die Politik erkannt, dass erfolgreiche Start-ups entscheidend für die Zukunft des deutschen Wohlstands sind. In seiner ersten Regierungserklärung hat Kanzler Olaf Scholz erklärt, Deutschland zum führenden Start-up-Standort machen zu wollen.
Mehr Kapital für Gründer
Ein entscheidendes Problem für Gründer wurde indes schon vorher identifiziert: der Zugang zum benötigten Geschäftskapital. Traditionell sind hiesige Investoren nämlich vergleichsweise selten bereit, in neue Geschäftsmodelle zu investieren, bei denen sie alles oder zumindest einen großen Teil ihres Geldes verlieren könnten. In anderen Ländern – allen voran den Vereinigten Staaten – fällt es Start-ups leichter, entsprechendes Wagniskapital zu beschaffen.
In den vergangenen Jahren hat die Politik deshalb einiges unternommen, um Firmen in ihrer Gründungsphase finanziell zu unterstützen. Das reicht allerdings nicht aus – oft sind die Jahre nach der Gründung besonders kapitalintensiv, doch für diesen Zeitraum gibt es kaum öffentliche Fördertöpfe. Hier kommt der neue Zukunftsfonds ins Spiel, für den der deutsche Staat bis 2030 insgesamt 10 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln zu Verfügung stellen und noch einmal 20 Milliarden von privaten Geldgebern einsammeln will.
In einer neuen Studie bewertet das Institut der deutschen Wirtschaft den Zukunftsfonds positiv. Die IW-Ökonomen honorieren vor allem die Idee hinter dem sogenannten Deep Tech Future Fonds – einem Baustein des Zukunftsfonds –, der technologieintensive Gründungsvorhaben erleichtern soll, für deren Finanzierung es einen besonders langen Atem braucht.
Knackpunkt: private Investoren gewinnen
Allerdings ist keinesfalls sicher, dass wirklich 20 Milliarden Euro zusätzlich von privaten Investoren für den Fonds zusammenkommen – unter anderem, weil einige steuerrechtliche Fragen noch nicht abschließend geklärt sind. So können beispielsweise die Gewinne und Verluste aus verschiedenen Beteiligungen nicht so einfach miteinander verrechnet werden wie in den USA oder im Vereinigten Königreich.
Entsprechend rät das IW dazu, nach einiger Zeit zu überprüfen, inwiefern der Fonds seine Ziele erreicht hat und wie der Staat gegebenenfalls nachjustieren muss, um wirklich mehr Einhörnern in Deutschland eine Heimat zu schaffen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf iwd.de.