Allgemeinverbindlichkeitserklärung
Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) ist ein Instrument im Arbeitsrecht, mit dem Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Dies bedeutet, dass die im Tarifvertrag festgelegten Normen nicht nur für die Mitglieder der Tarifvertragsparteien, also der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, gelten, sondern für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer innerhalb des Geltungsbereichs des Tarifvertrages, unabhängig davon, ob sie Mitglied einer der Tarifvertragsparteien sind oder nicht. In Deutschland werden die Rahmenbedingungen und die Verfahrensweise zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen primär durch das Tarifvertragsgesetz (TVG) geregelt. Besonders die §§ 5 und 5a TVG sind hier relevant. Sie legen fest, unter welchen Voraussetzungen ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden kann und welche Verfahrensschritte dafür erforderlich sind.
Verfahren
Die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit erfolgt in Deutschland auf einen gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien (also Arbeitnehmer und Arbeitgeber). Die Tarifvertragsparteien stellen dabei einen Tarifausschuss, der aus drei Vertreter*innen von beiden Seiten besteht. Der Antrag wird bei dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales oder den entsprechenden Landesbehörden gestellt. Voraussetzung ist in der Regel, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 % der unter den Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und dass die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse liegt. Nach Prüfung des Antrags und Durchführung eines Anhörungsverfahrens kann die Behörde den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären.
Als Beispiel für Allgemeinverbindliche Tarifverträge können branchenspezifische Mindestlöhne genannt werden. Diese liegen in der Regel höher als der allgemeine Mindestlohn und sind für alle Unternehmen dieser Branche bindend.
Zweck
Der Hauptzweck der Allgemeinverbindlicherklärung ist es, Wettbewerbsgleichheit unter den Unternehmen zu schaffen und Arbeitnehmern gleiche Arbeitsbedingungen zu garantieren. Durch die Erweiterung der Geltung eines Tarifvertrages auf Nichtmitglieder wird verhindert, dass Unternehmen durch Nichtanwendung der Tarifverträge Kosten sparen und somit einen Wettbewerbsvorteil erlangen. Zudem sichert es ein Mindestmaß an arbeitsrechtlichem Schutz für alle Arbeitnehmer im Anwendungsbereich.
Kritik und Herausforderungen
Die Allgemeinverbindlicherklärung steht oft im Spannungsfeld zwischen dem Interesse an einheitlichen Wettbewerbsbedingungen und dem Prinzip der Tarifautonomie, also der Freiheit der Tarifvertragsparteien, Arbeitsbedingungen ohne staatliche Einmischung auszuhandeln. Kritiker argumentieren, dass die AVE in die unternehmerische Freiheit eingreift und kleine sowie mittelständische Unternehmen überproportional belasten kann. Zudem wird diskutiert, inwieweit die AVE flexiblen Arbeitsmarktbedingungen gerecht werden kann.
Aktuelle Entwicklungen
Die Anwendung und die Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung haben sich im Laufe der Zeit gewandelt, unter anderem aufgrund veränderter Arbeitsmarktstrukturen und politischer Entscheidungen. In einigen Ländern werden Alternativen und Ergänzungen zur traditionellen AVE diskutiert, um flexible und gerechte Arbeitsbedingungen zu fördern, ohne die Vorteile der AVE für die Wettbewerbsgleichheit und den Schutz der Arbeitnehmer zu verlieren.
Was die Anzahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge betrifft, so unterliegt diese einer gewissen Dynamik, da regelmäßig neue Tarifverträge abgeschlossen, für allgemeinverbindlich erklärt oder auch aus der Allgemeinverbindlichkeit entlassen werden. Historisch gesehen war die Zahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge in Deutschland rückläufig. In den 1990er Jahren gab es noch über tausend allgemeinverbindliche Tarifverträge, während diese Zahl in den darauffolgenden Jahrzehnten deutlich gesunken ist. Zum aktuellen Zeitpunkt (Stand: April 2024) liegt die Zahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge bei einigen hundert, genaue Zahlen können jedoch schwanken und sind über das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) oder entsprechende Landesbehörden zu beziehen.