Offene Gesellschaft
Die "offene Gesellschaft" kann als das Idealbild in der politischen Philosophie Sir Karl Raimund Poppers (1902 bis 1994) betrachtet werden. Sein berühmtes Buch hierzu "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" (zwei Bände), das er in Neuseeland verfasste, richtet sich gegen jegliche totalitäre Herrschaft. Vor allem in Platon, Hegel und Marx sah Popper ideologische Feinde einer freien und offenen Gesellschaft.
Eine offene Gesellschaft setzt persönliche Freiheit voraus, aber auch individuelle Verantwortung für die Folgen eigenen Handelns. Es ist daher verantwortungsethisch begründet und setzt auf die Vernunft des Einzelnen. Die Entwicklung des Einzelnen soll nur dort eingeschränkt werden, wo sie zum Schaden Dritter missbraucht wird.
Offenheit meint aber auch Freiheit der Forschung und erkennt so genannte wissenschaftliche Hypothesen nur solange an, wie sie nicht widerlegt sind. Sie haben daher stets auf dem Prüfstand der Falsifikation zu stehen und sind immer nur vorläufig gültig (Falsifikationstheorie, kritischer Rationalismus, Lernen durch "Versuch und Irrtum"). Eine wertfreie Wissenschaft gibt es demnach nicht, da das erkenntnisleitende Interesse des Wissenschaftlers im Hintergrund steht.
Im Gegensatz dazu versuchen die Positivisten ihre Theorien empirisch zu verifizieren (Empirismus), was aber nach Popper zum Dogmatismus führen kann. Damit ist der kritische Rationalismus für die offene Gesellschaft als Erkenntnisweg grundlegend. Die Freiheit der Forschung ist essenziell. Eine offene Gesellschaft kann die wirkliche Wahrheit nicht kennen, von daher muss sie für das Neue stets offen sein. Dies betrifft auch ihre eigene sozioökonomische Entwicklung.
Heute wird unter offener Gesellschaft zugleich die eigenverantwortliche Bürgergesellschaft mit wenig Staat verstanden, die von der individuellen Leistungsbereitschaft und der Toleranz gegenüber anderen lebt. Sie meint Weltoffenheit sowie offene Grenzen für Menschen, Informationen und Meinungen. In ihrer Entwicklung ist sie nicht zielgerichtet, sondern überlässt sie dem Spiel der "spontanen Ordnungen" und dem Prozess von "Versuch und Irrtum" (F. A. von Hayek). Zu den Grundpfeilern der offenen Gesellschaft gehören politisch die Demokratie und ökonomisch die Marktwirtschaft sowie das freie Unternehmertum. Das Leitbild der offenen Gesellschaft ist für den Liberalismus und für die moderne westliche Welt mit ihren Menschenrechten grundlegend.
Strittig ist häufig, wie weit die Toleranz in einer offenen Gesellschaft gehen kann oder darf, ohne sich selbst und ihre Mitglieder zu gefährden. So bestimmen in ihr Konflikte und Diskurse um Wege und Ziele gesellschaftlicher Ordnung die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen.
Angemerkt werden muss, dass dieses Leitbild ein Menschen- und Wertebild voraussetzt, dass sich so in der Wirklichkeit nicht uneingeschränkt finden lässt. Eine "offene Gesellschaft" ist deshalb oft genug der "Tyrannei der Werte" (Nicolai Hartmann) ausgesetzt. Nach wie vor wird dieses Leitbild somit nicht uneingeschränkt bejaht, so dass es immer wieder neu auch gegen fundamentalistische Einstellungen, Werthaltungen und Ideologien antreten muss. (Me)