Ein Schutzschirm für den EU-Binnenmarkt
Globalisierung und Europa
Sekundarstufe I + II
Eine der wichtigsten Errungenschaften der EU ist der Binnenmarkt. Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben jedoch gezeigt, wie verletzlich dieses Konstrukt und wie abhängig die Staatengemeinschaft von Lieferungen aus Drittstaaten ist. Ein neues EU-Notfallinstrument soll künftig die Versorgung der Mitgliedsstaaten mit Waren und Dienstleistungen sicherstellen, die von einer Krise betroffen sind.
Corona und der Krieg in der Ukraine haben dazu geführt, dass Waren, die sonst jederzeit zu haben waren, plötzlich knapp sind: Zu Pandemiebeginn waren es medizinische Masken, Beatmungsgeräte und Desinfektionsmittel. Seit dem russischen Angriffskrieg sind Gas, Weizen, Speiseöl und Kabelbäume begehrte Güter. Die Ursachen für diese Knappheiten sind neben einer gestiegenen Nachfrage meist politischer Natur: Sanktionen, geschlossene Grenzen, Ausfuhrverbote.
Zu Beginn der Corona-Pandemie haben viele EU-Länder ihre Grenzen dichtgemacht, innerhalb der Gemeinschaft war es über Monate nicht ohne Weiteres möglich, von jedem Mitgliedsland in ein anderes zu reisen. Eigentlich verstößt diese Abschottung gegen die Regeln des Binnenmarktes, der den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen innerhalb der EU-Staatengemeinschaft garantiert. Doch die Angst vor dem Coronavirus war in der ersten Jahreshälfte 2020 und auch noch zu Jahresbeginn 2021 so groß, dass viele Staaten ihre Grenzen schlossen. Auch Ausfuhrverbote existierten, etwa für medizinische Schutzkleidung oder Impfstoffe.
Damit das nicht wieder passiert, hat die EU-Kommission Mitte September einen Vorschlag für ein Notfallinstrument für den Binnenmarkt vorgestellt: das Single Market Emergency Instrument, kurz SMEI. Dessen vorrangiges Ziel ist es, den Binnenmarkt auch in Krisenzeiten funktionsfähig zu halten, also dafür zu sorgen, dass der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen zwischen den Mitgliedsstaaten gewährleistet ist. Außerdem soll das SMEI die Versorgung und die Verteilung von durch eine Krise betroffenen Waren und Dienstleistungen sicherstellen.
Ein Viertel der EU-Wirtschaftsleistung entsteht durch den Binnenmarkt
Tatsächlich ist der Binnenmarkt für die Mitgliedsstaaten elementar. Die EU-Kommission schätzt, dass 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU durch den Binnenmarkt entstehen. Die Mehrheit des internationalen Handels findet nämlich innerhalb des Binnenmarktes statt: Im Jahr 2021 importierten die EU-Staaten Waren im Wert von rund 5,5 Billionen Euro. Rund 61 Prozent davon – fast 3,4 Billionen Euro – entfielen auf Waren, die aus anderen EU-Mitgliedsstaaten stammten. Doch nicht alle Länder beziehen gleich viele Produkte aus der Staatengemeinschaft (Grafik):
Luxemburg rangiert mit einer EU-Importquote von 89 Prozent auf Platz eins, Deutschland kommt mit knapp 64 Prozent auf Platz 18.
Ein Schutzschirm für den EU-Binnenmarkt II
Nur in Irland und den Niederlanden stammt mehr als die Hälfte der Importe nicht aus der EU. Dass die Niederlande so viele Waren aus Drittstaaten einführen, dürfte dem Rotterdamer Hafen geschuldet sein, über den viele andere EU-Länder Waren aus der ganzen Welt importieren. Und Irland pflegt enge Wirtschaftsbeziehungen zum ehemaligen EU-Mitglied Großbritannien, das als Warenlieferant nun Drittland ist.
Doch was kann das SMEI im Krisenfall tatsächlich bewirken? Im Notfallmodus – das ist die letzte von insgesamt vier Stufen der SMEI-Krisenreaktionsstruktur und bedarf eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union – ist es den Mitgliedsstaaten unter anderem untersagt, den freien Verkehr krisenrelevanter Waren und Dienstleistungen zu beschränken; mit einer Ausnahme: Die Beschränkung ist dann erlaubt, wenn sie ein „gerechtfertigtes letztes Mittel“ ist.
Die EU soll im Krisenfall bestimmen dürfen, was produziert wird
Außerdem legt das SMEI den europäischen Unternehmen strenge Informationspflichten auf: So können Betriebe unter bestimmten Umständen veranlasst werden, Geschäftsgeheimnisse gegenüber der EU-Kommission offenzulegen – dies aber stellt einen Eingriff in die Eigentumsrechte der Unternehmen dar. Der Verordnungsentwurf enthält zudem die Möglichkeit direkter Anweisungen, bestimmte Güter vorrangig zu produzieren.
An dieser Art von dirigistischen Eingriffen werden die Probleme des SMEI deutlich. Da die Kriterien für die Aktivierung des Binnenmarkt-Notfallplans recht vage sind und einen großen Interpretationsspielraum erlauben, besteht die Gefahr, dass die EU-Institutionen das Krisennotfallinstrument zu häufig nutzen.
Trotz all dieser Eingriffsmöglichkeiten wird es auch diesem Instrument nicht gelingen, Versorgungskrisen vollständig zu verhindern. Denn dafür ist der EU-Binnenmarkt international zu verflochten, insbesondere was den Bezug kritischer Rohstoffe aus Drittstaaten angeht. Dies zeigt ein Blick auf die drei wichtigsten außereuropäischen Importländer (Grafik):
China war 2021 mit einem Anteil von 22 Prozent am Gesamtwert der EU-Importe aus Drittstaaten der größte Handelspartner der EU, gefolgt von den USA (11 Prozent) und Russland (8 Prozent).
Ein Schutzschirm für den EU-Binnenmarkt III
Von 5.000 Gütern, die die EU aus Drittstaaten bezieht, besteht eine hohe Abhängigkeit bei 390 Gütern. Davon wiederum werden 137 in sensiblen Wirtschaftsbereichen wie der Luftfahrt oder der Verteidigung benötigt. Rund die Hälfte des Handels mit diesen 137 Gütern entfällt auf China, aus Vietnam kommen 11 Prozent und aus Russland 3 Prozent.
Dieser Artikel erschien zuerst auf iwd.de